Was ist das WHO-Modellformular wirklich?
Das WHO-Modellformular - offiziell die WHO-Liste der essentiellen Medikamente - ist kein herkömmliches Rezepturverzeichnis wie in deutschen Krankenhäusern oder US-amerikanischen Krankenkassen. Es ist eine globale Richtschnur, die seit 1977 festlegt, welche Medikamente jeder Gesundheitssystem braucht, um Leben zu retten und Krankheiten zu behandeln - besonders in Ländern mit wenig Geld und schwacher Infrastruktur. Die aktuelle Version, die 23. Auflage, erschien im Juli 2023 und enthält 591 Medikamente, davon fast die Hälfte (46%) sind Generika. Diese Liste wird alle zwei Jahre von unabhängigen Experten überprüft und aktualisiert. Es geht nicht darum, alle möglichen Medikamente aufzulisten, sondern nur diejenigen, die nachweislich wirksam, sicher und bezahlbar sind.
Warum Generika? Die Logik hinter der Auswahl
Die WHO setzt bewusst auf Generika, weil sie den entscheidenden Vorteil haben: Sie kosten oft 10 bis 90 Prozent weniger als das Originalpräparat. Das ist kein Zufall. Ein Medikament wird nur dann aufgenommen, wenn es nicht nur wirkt, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Die Kriterien sind streng: Es braucht mindestens eine klinische Studie mit hoher Evidenz (Level 1a oder 1b), eine Kosten-Nutzen-Analyse, die zeigt, dass das Medikament pro Lebensjahr mit verbesserter Qualität nicht mehr als das Dreifache des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf kostet, und es muss eine Krankheit behandeln, die mindestens 100 Fälle pro 100.000 Menschen verursacht. Bei Antibiotika, Antiviren und Antipilzmitteln - die zusammen 49 Prozent der Liste ausmachen - ist der Druck besonders hoch, weil sie lebenswichtig sind und oft in ländlichen Gebieten benötigt werden, wo kein Zugang zu teuren Spezialmedikamenten besteht.
Wie wird ein Medikament ausgewählt?
Die Auswahl läuft nicht hinter verschlossenen Türen ab. Jede zwei Jahre treffen sich 25 unabhängige Experten aus 18 Ländern in Genf. Sie prüfen bis zu 220 Anträge auf neue Aufnahmen oder Änderungen. Jedes Medikament wird anhand von vier Kriterien bewertet: Öffentliche Gesundheitsrelevanz (30 %), Wirksamkeit und Sicherheit (30 %), Kosten-Nutzen-Verhältnis (25 %) und Umsetzbarkeit im Gesundheitssystem (15 %). Ein Medikament braucht mindestens 7 von 10 Punkten in jedem Bereich und insgesamt 7,5 von 10, um aufgenommen zu werden. Das ist kein Vorschlag - das ist eine Hürde, die nur die besten Medikamente überwinden. Und die Qualität der Generika? Sie müssen entweder die WHO-Präqualifizierung haben oder von einer strengen Aufsichtsbehörde wie der FDA oder der EMA zugelassen sein. 92 Prozent der generischen Medikamente auf der Liste erfüllen diese Anforderung.
Generika vs. Original: Was macht die WHO anders?
Im Gegensatz zu Formularen in den USA oder Deutschland, die oft fünf Preisstufen haben und Patienten dazu zwingen, teurere Medikamente zu wählen, wenn sie mehr zahlen wollen, ist die WHO-Liste völlig anders aufgebaut. Sie sagt nicht: „Nimm das billigste.“ Sie sagt: „Nimm das beste, das du dir leisten kannst.“ In manchen Wirkstoffgruppen steht nur ein einziges Medikament auf der Liste - weil alle Studien zeigen, dass es das effektivste und sicherste ist. In den USA hingegen müssen Krankenkassen in jeder von 57 Wirkstoffgruppen mindestens zwei Produkte anbieten - unabhängig davon, ob das zweite Medikament überhaupt besser ist. Die WHO vermeidet Überflüssigkeit. Sie vermeidet Marketing. Sie vermeidet Druck von Pharmafirmen. Das macht sie einzigartig.
Wie wird das in der Praxis umgesetzt?
Über 150 Länder haben ihre eigene Liste der essentiellen Medikamente - fast alle orientieren sich an der WHO-Vorlage. In Ghana führte die Übernahme zu einer 29 Prozentigen Senkung der Ausgaben der Patienten für Medikamente zwischen 2018 und 2022. In Indien sanken die Kosten für Antibiotika in Krankenhäusern um 35 Prozent, nachdem man die WHO-Empfehlungen für antibiotische Stufen umgesetzt hatte. Doch es gibt auch Schattenseiten. In Nigeria waren nur 41 Prozent der auf der nationalen Liste stehenden Medikamente regelmäßig verfügbar. Die Ursache? Keine schlechte Liste - sondern brüchige Lieferketten, fehlende Lagerkapazitäten, Korruption. In einigen Ländern gelangen sogar gefälschte oder minderwertige Generika in die Versorgung - 10,5 Prozent der getesteten Medikamente in Niedrig- und Mittelinkommensländern waren laut WHO-Überwachungssystem substandard oder gefälscht, besonders bei Antibiotika und Malaria-Medikamenten.
Die Rolle der Industrie und die Gefahr der Abhängigkeit
Die globale Generika-Industrie hat sich stark an die WHO-Liste angepasst. Hersteller aus Indien, China und den USA streben aktiv die WHO-Präqualifizierung an, weil sie damit Zugang zu Milliardenaufträgen der UN, des Globalen Fonds oder der WHO selbst bekommen. Zwischen 2018 und 2023 stieg die Zahl der präqualifizierten Generika um 47 Prozent. Doch es gibt Kritik: 45 Prozent der klinischen Daten, die die WHO für die Auswahl nutzt, stammen heute aus von der Pharmaindustrie finanzierten Studien - ein Anstieg von 28 Prozent im Jahr 2015. Einige Experten warnen: Das könnte die Unabhängigkeit gefährden. Die WHO hat reagiert: Seit 2023 müssen alle Experten alle finanziellen Beziehungen offenlegen - und 100 Prozent haben das getan. Trotzdem bleibt die Frage: Wer kontrolliert, wer die Daten liefert?
Was hat sich seit 2023 verändert?
Die neueste Version der Liste ist kein kleiner Update - sie ist ein Sprung nach vorn. Sie enthält jetzt sieben Biosimilars - also Nachahmer von Biologika, die bislang nur für teure Krebs- oder Autoimmunerkrankungen verfügbar waren. Für Kinder gibt es jetzt 42 Prozent der Medikamente in altersgerechten Darreichungsformen - wie flüssige Tabletten oder geschmacksneutrale Suspensionen. Vor fünf Jahren waren es nur 29 Prozent. Außerdem gibt es seit September 2023 die WHO Essential Medicines App, die von über 127.000 Nutzern in 158 Ländern heruntergeladen wurde. Und in Zukunft wird es eine neue Regel geben: Antibiotika müssen in Formularen in drei Stufen eingeteilt werden - von „erste Wahl“ bis „nur im Notfall“. Das soll den Missbrauch bekämpfen, der zu Resistenzen führt. Die WHO will bis 2030 den Zugang zu essentiellen Medikamenten in der primären Gesundheitsversorgung von 65 auf 80 Prozent erhöhen. Das ist ehrgeizig. Aber notwendig.
Warum ist das wichtig für dich - auch in Deutschland?
Du denkst vielleicht: „Das ist doch was für Afrika oder Asien.“ Doch die WHO-Liste beeinflusst auch uns. Viele deutsche Krankenhäuser, die in Entwicklungsländern arbeiten, orientieren sich an ihr. Die EU nutzt die WHO-Präqualifizierung als Referenz für die Zulassung von Generika aus Drittländern. Und wenn du jemals ein billiges Medikament aus Indien oder Bangladesch in der Apotheke bekommst - dann liegt das auch an der WHO. Sie hat den Markt geöffnet. Sie hat die Preise gedrückt. Sie hat die Qualität definiert. Ohne diese Liste würden viele Medikamente, die wir heute als selbstverständlich betrachten, doppelt oder dreifach so teuer sein. Und das gilt nicht nur für HIV-Medikamente - die seit 2008 von 1.076 auf 119 Dollar pro Jahr gesunken sind - sondern auch für Bluthochdruckmittel, Antibiotika oder Insulin.
Was funktioniert nicht?
Die größte Schwäche der WHO-Liste ist nicht ihre Qualität - sondern ihre Umsetzung. 68 Prozent der niedrigeinkommensländer sagen, sie haben nicht genug Fachwissen, um die Liste in ihre Krankenhäuser und Gesundheitszentren zu übertragen. Es gibt keine Anleitungen für Lagerhaltung, keine klaren Prozesse für Lieferengpässe, keine klaren Regeln, wie man mit Kinderdosen umgeht, wenn das Medikament nur als Tablette für Erwachsene existiert. In einigen Ländern wissen Apotheker nicht einmal, wie sie die WHO-Präqualifizierung überprüfen sollen. Die Liste ist ein perfekter Plan - aber kein Bauplan. Und das ist der entscheidende Unterschied zwischen einem guten Ziel und einer funktionierenden Realität.
Was kommt als Nächstes?
Die WHO arbeitet jetzt daran, die Liste mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung zu verknüpfen. Jedes Land, das den Zugang zu Gesundheitsversorgung als Menschenrecht definiert, muss auch den Zugang zu Medikamenten garantieren. Doch nur 31 Prozent der ärmsten Länder haben ein Budget, das mehr als 15 Prozent ihres gesamten Gesundheitsausgaben für Medikamente ausgibt - das ist der Wert, den die WHO als Minimum empfiehlt. Ohne dieses Geld bleibt die Liste nur ein Papier. Die nächste Herausforderung wird sein: Wie bringt man die besten Medikamente nicht nur auf die Liste, sondern auch in die Apotheke - und zwar dauerhaft, zuverlässig, bezahlbar? Das ist die wahre Prüfung - nicht die Auswahl, sondern die Lieferung.
Ist das WHO-Modellformular rechtlich bindend?
Nein, das WHO-Modellformular ist keine gesetzliche Vorschrift. Es ist eine Empfehlung, die Länder als Leitfaden nutzen können, um ihre eigenen nationalen Listen zu erstellen. Ob ein Land die Liste übernimmt, hängt von politischen Entscheidungen, finanziellen Mitteln und der Gesundheitsinfrastruktur ab. Viele Länder - besonders in Afrika und Asien - folgen ihr jedoch weitgehend, weil sie als international anerkannter Standard gilt.
Warum werden nicht alle neuen Medikamente aufgenommen?
Die WHO nimmt nur Medikamente auf, die nachweislich wirksam, sicher und kosteneffektiv sind - und die eine große öffentliche Gesundheitsrelevanz haben. Neue, teure Wirkstoffe, wie z. B. bestimmte Krebsmedikamente oder Gen-Therapien, erfüllen oft nicht das Kriterium der Kosten-Nutzen-Analyse. Sie sind zwar innovativ, aber für die meisten Gesundheitssysteme nicht bezahlbar. Die Liste priorisiert also nicht Innovation, sondern Zugänglichkeit. Nur 12 Prozent der neu zugelassenen Medikamente zwischen 2018 und 2022 wurden aufgenommen - im Vergleich zu 35-45 Prozent in den Formularen reicher Länder.
Was bedeutet „WHO-Präqualifizierung“ für Generika?
Die WHO-Präqualifizierung ist eine strenge Prüfung, die sicherstellt, dass ein Generikum die gleiche Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit wie das Originalprodukt hat. Dazu gehören Laboranalysen, Bioäquivalenzstudien (80-125 % für die Aufnahme in den Blutkreislauf) und Prüfung der Produktionsbedingungen. Nur Medikamente mit dieser Zertifizierung dürfen von UN-Organisationen oder globalen Gesundheitsprogrammen beschafft werden. 92 Prozent der generischen Medikamente auf der WHO-Liste sind präqualifiziert.
Warum gibt es so viele Generika bei Antibiotika?
Antibiotika sind die häufigsten Medikamente, die in Gesundheitssystemen mit begrenzten Ressourcen benötigt werden - besonders für Infektionen bei Kindern, bei Verletzungen oder nach Geburten. Sie müssen schnell, billig und zuverlässig verfügbar sein. Viele Antibiotika sind seit Jahrzehnten patentfrei, und ihre Wirkung ist gut dokumentiert. Die WHO hat daher bewusst viele davon aufgenommen, um die Behandlung von Infektionen weltweit zu sichern. 49 Prozent der Liste sind Antibiotika, Antiviren und Antipilzmittel - das ist kein Zufall, sondern eine strategische Entscheidung.
Wie kann man die WHO-Liste in der Praxis nutzen?
Gesundheitsbehörden nutzen sie, um ihre nationalen Medikamentenlisten zu erstellen. Apotheker und Ärzte können sie als Orientierung für die Auswahl der besten und billigsten Behandlungsoptionen nutzen. Krankenhäuser in Entwicklungsländern verwenden sie, um Einkäufe zu planen und Lieferketten zu stärken. Auch in Deutschland können Ärzte, die in internationalen Projekten arbeiten, die Liste als Referenz nutzen, um zu verstehen, welche Medikamente in anderen Regionen als Standard gelten. Die kostenlose WHO-App hilft dabei, die Liste schnell und einfach abzurufen - auch offline.