Seit 2018 ist eine unsichtbare Bedrohung in vielen gängigen Generika aufgetaucht: Nitrosamine. Diese chemischen Verunreinigungen sind potenziell krebserregend - selbst in winzigen Mengen. Was anfangs wie ein einzelner Fall von verschmutztem Blutdruckmedikament wirkte, hat sich zu einer globalen Krise entwickelt, die Tausende von Produkten betraf und die gesamte Generika-Industrie auf den Kopf stellte. Es geht nicht mehr nur um ein paar abgerufene Tabletten. Es geht um das Vertrauen in Medikamente, die Millionen von Menschen täglich einnehmen - und um die Frage, wie sicher sie wirklich sind.
Wie Nitrosamine in Medikamente geraten
Nitrosamine entstehen nicht durch Zufall. Sie bilden sich, wenn bestimmte chemische Bestandteile in der Herstellung aufeinandertreffen: Sekundäre oder tertiäre Amine reagieren mit Nitriten - oft aus Hilfsstoffen wie Magnesiumstearat oder sogar aus Verpackungsmaterialien. Die Reaktion braucht nur bestimmte Temperaturen, Feuchtigkeit oder einen längeren Lagerzeitraum. In einem Fall aus dem Jahr 2024 wurde eine Antibiotika-Tablette zurückgerufen, weil alle untersuchten Chargen mehr als 1.500 Nanogramm Nitrosamine pro Tag enthielten. Das ist mehr als das zehnfache des zulässigen Grenzwerts.
Früher dachte man, der Fehler liege nur in der aktiven Substanz. Heute weiß man: Die Verunreinigung kann auch aus der Verpackung kommen. Blisterfolien, die Aminverbindungen enthalten, oder Klebstoffe mit Nitrit-Rückständen können Nitrosamine während der Lagerung freisetzen. Das macht die Suche nach der Ursache extrem schwierig. Ein Hersteller berichtete, dass ein einziger Lieferant von Magnesiumstearat drei verschiedene Blutdruckmittel kontaminierte - und es dauerte 14 Monate, bis die gesamte Lieferkette umgestellt war.
Welche Medikamente sind betroffen?
Die ersten Fälle kamen 2018 mit Blutdruckmitteln wie Valsartan, Losartan und Irbesartan. Doch die Liste wuchs schnell. Ranitidin (Zantac) wurde 2020 weltweit vom Markt genommen, weil es sich im Körper zu NDMA, einem stark krebserregenden Nitrosamin, zersetzen konnte. Danach folgten Metformin (für Diabetes), Duloxetin (für Depressionen), Vareniclin (für das Rauchstopp), Rifampicin (für Tuberkulose) und noch mehr. Insgesamt hat die FDA seit 2018 mehr als 500 Rückrufe wegen Nitrosaminen veranlasst - und das sind nur die offiziell dokumentierten Fälle.
Die gefährlichsten Nitrosamine sind NDMA (N-Nitrosodimethylamin), NDEA (N-Nitrosodiethylamin) und verschiedene NDSRIs - Nitrosamine, die spezifisch mit der Wirksubstanz verbunden sind. Für NDMA gilt ein Grenzwert von 96 Nanogramm pro Tag, für NDEA nur 26,5 Nanogramm. Das klingt winzig - aber wenn man bedenkt, dass ein menschliches Haar etwa 80.000 Nanometer dick ist, dann ist ein Nanogramm extrem klein. Und doch reicht es, um das Krebsrisiko zu erhöhen.
Was macht die FDA? Regulierung im Wandel
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA war die erste, die handelte. Sie führte strenge Grenzwerte ein, verlangte hochsensitive Tests mit LC-MS/MS-Verfahren, die Nitrosamine in Billionstel-Konzentrationen nachweisen können. Sie verlangte von Herstellern, nicht nur zu testen, sondern auch die Ursachen zu finden - und das war der entscheidende Unterschied. Viele Firmen hatten einfach nur ihre Tests verbessert, ohne die Herstellungsprozesse zu ändern. Das half nicht.
Im August 2023 verschärfte die FDA die Regeln für NDSRIs. Sie verlangte jetzt individuelle Grenzwerte für jede neue Nitrosamin-Variante - kein „einheitlicher“ Wert mehr. Das war ein großer Schritt, aber auch eine enorme Belastung für kleine Hersteller. Die ursprüngliche Frist für die vollständige Umsetzung war der 1. August 2025. Doch im Juni 2025 änderte die FDA ihre Haltung. Sie akzeptiert jetzt nicht mehr nur vollständige Lösungen, sondern auch detaillierte Fortschrittsberichte. Hersteller müssen erklären, was sie getan haben, welche Schritte noch fehlen und wann sie fertig sind.
Diese Verschiebung zeigt: Die FDA erkennt an, dass das Problem komplexer ist als gedacht. Es geht nicht nur um Laboranalysen. Es geht um die Umstellung von Produktionslinien, neue Lieferanten, neue Verpackungen - und um Jahre an Stabilitätsdaten, die zeigen, dass die neue Formulierung auch nach zwei Jahren noch sicher ist.
Wie reagieren andere Länder?
Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat bis Mitte 2025 etwa 32 Rückrufe veranlasst. Auch sie hat Grenzwerte festgelegt, aber weniger streng als die FDA. Während die FDA jeden einzelnen NDSRI einzeln bewertet, erlaubt die EMA oft eine Gesamtbelastung aus mehreren Nitrosaminen. Das macht die Praxis einfacher - aber auch riskanter. Wenn zwei Nitrosamine jeweils 80 % ihres Grenzwerts enthalten, liegt die Gesamtbelastung bei 160 %. Das ist nach FDA-Regeln nicht erlaubt. Nach EMA-Regeln könnte es akzeptiert werden - wenn kein einzelner Wert überschritten wird.
Kanada, Großbritannien, Japan und Brasilien haben ähnliche Maßnahmen ergriffen, aber mit geringerer Reichweite. Die meisten Rückrufe kommen immer noch aus den USA. Das liegt nicht nur an der strengeren Regulierung, sondern auch an der Größe des Marktes. In den USA werden 90 % der verschriebenen Medikamente als Generika verkauft. Jeder Rückruf betrifft also Millionen von Patienten.
Die Kosten für die Hersteller
Ein mittelgroßer Generika-Hersteller muss heute jährlich zwischen 500.000 und 2 Millionen Euro in Nitrosamin-Tests und -Umbauten investieren. Das ist kein kleiner Betrag - besonders wenn der Gewinnmarge bei 5-10 % liegt. Ein Hersteller aus Deutschland berichtete, dass er 18 Monate und über 2 Millionen Euro brauchte, um Nitrosamine in seiner Metformin-Produktion zu eliminieren. Er musste nicht nur die Rezeptur ändern, sondern auch die gesamte Maschinenreinigung, die Luftfeuchtigkeit im Produktionsraum und die Lagerbedingungen neu einstellen.
Die Folge: Kleine Unternehmen können nicht mehr mithalten. Viele haben ihre Produktion eingestellt. Andere wurden von größeren Konzernen wie Teva, Fresenius Kabi oder Sun Pharmaceutical übernommen. Diese Firmen haben die Ressourcen, um die Tests durchzuführen, die neuen Prozesse zu entwickeln und die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen. Wer nicht mitzieht, verliert den Markt. Die Nitrosamin-Krise hat die Generika-Branche radikal verändert - von einem wettbewerbsorientierten Markt mit vielen kleinen Anbietern zu einem oligopolistischen System mit wenigen großen Playern.
Was bedeutet das für Patienten?
Die gute Nachricht: Die meisten betroffenen Medikamente wurden schnell zurückgerufen. Die Risiken für Patienten, die bereits ein kontaminiertes Medikament eingenommen haben, sind nach aktuellem Wissen gering. Die Krebsgefahr steigt nicht von heute auf morgen - sie wächst über Jahre. Aber das bedeutet nicht, dass man es ignorieren darf.
Wenn Ihr Arzt Ihnen ein Blutdruckmittel, ein Diabetesmedikament oder ein Antidepressivum verschreibt, fragen Sie: Ist das ein neues Batch? Wurde es nach 2023 hergestellt? Ist es von einem Hersteller, der öffentlich über Nitrosamin-Kontrollen berichtet? Die meisten großen Apotheken und Krankenhäuser haben ihre Lieferketten überprüft. Aber nicht alle.
Die FDA und andere Behörden haben jetzt öffentliche Listen mit zurückgerufenen Produkten. Sie sind nicht immer leicht zu finden - aber sie existieren. Nutzen Sie sie. Wenn Sie unsicher sind, fragen Sie Ihren Apotheker. Es ist nicht übertrieben, nachzufragen. Es ist Ihr Recht.
Was kommt als Nächstes?
Die Krise ist nicht vorbei. Die FDA hat bereits angekündigt, dass Nitrosamine weiterhin eine Top-Priorität bleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Medikamentenklassen - etwa Antibiotika, Schmerzmittel oder Hormonpräparate - betroffen sind. Die Behörden arbeiten an neuen Testmethoden, die schneller und günstiger sind. Aber bis dahin bleibt die Belastung für Hersteller hoch.
Einige Experten warnen: Wenn die Kosten für die Sicherheit weiter steigen, könnte es zu Engpässen bei wichtigen Medikamenten kommen. Wer zahlt die Rechnung? Letztendlich könnte es die Versicherungen oder die Patienten sein - durch höhere Preise oder weniger Verfügbarkeit.
Die Lösung liegt nicht nur in strengeren Tests. Sie liegt in einer neuen Denkweise: Sicherheit muss von Anfang an in die Entwicklung eingebaut werden - nicht als Nachtrag, wenn es schon zu spät ist. Die besten Hersteller haben das schon verstanden. Sie testen Nitrosamine nicht nur im Endprodukt, sondern schon bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe. Sie wählen Hilfsstoffe mit Bedacht. Sie vermeiden chemische Reaktionen, die Nitrosamine erzeugen können. Sie bauen Sicherheit in die DNA ihres Unternehmens ein.
Das ist der echte Fortschritt. Nicht nur, dass man Rückrufe vermeidet. Sondern dass man gar nicht erst in die Situation kommt, in der man zurückrufen muss.
Was sind Nitrosamine und warum sind sie gefährlich?
Nitrosamine sind chemische Verbindungen, die sich aus Aminen und Nitriten bilden können. Sie sind als wahrscheinliche oder mögliche Krebsauslöser eingestuft (IARC-Klasse 2A/2B). Selbst winzige Mengen - im Bereich von Nanogramm pro Tag - können das Krebsrisiko über Jahre hinweg erhöhen. Sie schädigen die DNS und können Mutationen verursachen, die zu Tumoren führen können. Bekannte Beispiele sind NDMA und NDEA, die in früheren Rückrufen von Blutdruck- und Diabetesmedikamenten gefunden wurden.
Welche Medikamente wurden wegen Nitrosaminen zurückgerufen?
Betroffen waren vor allem Blutdruckmittel wie Valsartan, Losartan und Irbesartan, das Säurehemmer Ranitidin (Zantac), das Diabetesmedikament Metformin, das Antidepressivum Duloxetin, das Rauchstoppmittel Vareniclin und das Antibiotikum Rifampicin. Insgesamt hat die FDA seit 2018 über 500 Rückrufe aufgrund von Nitrosaminen veranlasst - und das sind nur die offiziell gemeldeten Fälle.
Warum wurden diese Verunreinigungen erst 2018 entdeckt?
Frühere Tests konnten Nitrosamine nicht in den extrem niedrigen Konzentrationen nachweisen, in denen sie heute als gefährlich gelten. Erst mit modernen LC-MS/MS-Verfahren, die Sensitivitäten von 0,3-3 ng/ml erreichen, wurde es möglich, diese Spuren zu erkennen. Zudem wurden die Grenzwerte erst 2018/2019 von der FDA und anderen Behörden auf ein neues wissenschaftliches Niveau angehoben - basierend auf neuen Daten über Langzeitwirkungen.
Ist mein Medikament noch sicher, wenn es nicht zurückgerufen wurde?
Ja - aber mit einer wichtigen Einschränkung. Medikamente, die nach 2023 hergestellt wurden und von Herstellern stammen, die öffentlich ihre Nitrosamin-Kontrollen dokumentieren, gelten als sicher. Die meisten großen Unternehmen haben ihre Prozesse umgestellt. Wenn Sie unsicher sind, fragen Sie Ihren Apotheker nach dem Hersteller und dem Herstellungsdatum. Sie können auch die Rückruflisten der FDA oder EMA online prüfen.
Warum akzeptiert die FDA jetzt Fortschrittsberichte statt vollständiger Lösungen?
Weil die Herstellung von Generika komplex ist. Es reicht nicht, einfach einen neuen Lieferanten zu finden. Man muss die gesamte Produktion, Verpackung, Lagerung und Stabilität neu prüfen - und das dauert Jahre. Die FDA hat erkannt, dass viele kleine Hersteller nicht innerhalb von 18 Monaten alles umstellen können. Mit Fortschrittsberichten gibt sie ihnen Zeit, ohne die Sicherheit zu vernachlässigen. Es ist eine pragmatische Lösung für eine komplexe Krise.
Die Nitrosamin-Krise hat gezeigt: Arzneimittelsicherheit ist kein statischer Zustand. Sie muss ständig neu überprüft, angepasst und verteidigt werden. Für Patienten bedeutet das: Fragen Sie. Informieren Sie sich. Vertrauen Sie, aber prüfen Sie. Denn in der Medizin ist Wissen die beste Vorsorge.
Kommentare
Dag Dg November 29, 2025
Ich hab letzte Woche mein Blutdruckmittel gewechselt, nur weil ich gelesen hatte, dass das alte Batch aus 2022 kommt. Ich weiß, es klingt übertrieben, aber wenn man jeden Tag was einnimmt, will man halt nicht riskieren, dass da was drin ist, was einem langsam die Zellen kaputt macht.
Kari Mutu November 30, 2025
Die Tatsache, dass die FDA nun Fortschrittsberichte akzeptiert, ist ein klarer Hinweis darauf, dass die regulatorischen Rahmenbedingungen nicht mit der technischen Machbarkeit Schritt halten können. Es handelt sich hierbei um eine formale Konzession, die nicht unbedingt mit einer tatsächlichen Verbesserung der Patientensicherheit korreliert.
Anne-Line Pedersen Dezember 1, 2025
Leute, es ist doch nicht so schlimm! 😊 Wir haben doch auch keine Angst vor Chemie, oder? Die Hersteller machen das doch jetzt besser! Ich hab neulich mein Metformin gekauft – der Hersteller steht auf der Packung und hat ‘Nitrosamin-free’ drauf! Das ist doch mega, oder? Wir müssen nur positiv denken und vertrauen!
Øyvind Arnøy Dezember 1, 2025
Wenn man bedenkt, dass wir in den 90ern noch mit Asbest in Schulen lebten und jetzt Angst vor 96 Nanogramm in einer Tablette haben – ist das nicht ein bisschen ironisch? Wir haben die Technik, um Billionstel zu messen, aber nicht die politische Klugheit, um zu verstehen, dass man nicht alles, was messbar ist, auch sofort als existenzielle Bedrohung deklarieren muss. Die Angst ist jetzt das neue Öl.
hanne dh19 Dezember 2, 2025
Das ist alles eine Ablenkung. Die Pharma-Lobby hat die FDA gekauft. Warum sonst sollte man erst 2018 was merken? Vorher war alles okay? Nein. Die Regierungen lassen das bewusst zu, damit wir abhängig bleiben. Die echten Heilmittel werden unterdrückt – und stattdessen verkaufen sie uns Gift in Tablettenform. Und dann noch ‘Fortschrittsberichte’? Lachhaft.
Trine Grimm Dezember 2, 2025
Ich hab meinen Apotheker gefragt. Er sagte, er kann mir sagen, welches Batch ich bekomme, aber nicht, ob das neue Verfahren wirklich sicher ist. Ich hab einfach das nächste Rezept abgewartet. Einfach so.
Pål Tofte Dezember 3, 2025
Es ist traurig, dass es so weit gekommen ist. Aber es zeigt auch, dass wir endlich lernen, vorsichtiger mit Medikamenten umzugehen. Nicht nur als Konsumgut, sondern als etwas, das unser Leben beeinflusst. Ich hoffe, dass diese Krise uns dazu bringt, wieder mehr Wert auf Prävention und natürliche Heilwege zu legen – ohne dabei die Wissenschaft zu ignorieren.