Wenn Gelenke plötzlich brennen, rot werden und sich kaum noch bewegen lassen, ist oft Gicht die Ursache. Keine gewöhnliche Arthritis, sondern eine Krankheit, die tief im Stoffwechsel verwurzelt ist. Sie entsteht nicht durch zu viel Fleisch oder Bier allein, sondern durch einen fehlerhaften Prozess im Körper: die Purin-Stoffwechsel-Störung. Und sie lässt sich nicht mit Schmerzmitteln heilen - nur mit gezielter, langfristiger Therapie.
Was passiert im Körper bei Gicht?
Purine sind natürliche Bausteine in unserer Nahrung und in unseren Zellen. Sie kommen in Fleisch, Fisch, Bier und sogar in Hülsenfrüchten vor. Der Körper baut sie ab - und am Ende bleibt Uric Säure übrig. Normalerweise wird diese Säure über die Nieren ausgeschieden. Doch bei Menschen mit Gicht läuft etwas schief. Entweder produziert der Körper zu viel davon, oder die Nieren scheiden zu wenig aus. Der Schwellpunkt liegt bei 6,8 mg/dL im Blut. Darüber kristallisiert sich die Uric Säure aus - und bildet scharfe, nadelförmige Kristalle in den Gelenken. Diese Kristalle aktivieren das Immunsystem wie eine Invasion. Es kommt zu heftigen Entzündungen: Schmerzen, Schwellungen, Hitze. Der erste Anfall trifft oft den großen Zeh - aber auch Knöchel, Knie, Finger und Ellenbogen können betroffen sein. Warum passiert das? Weil Menschen seit etwa 15 Millionen Jahren kein Enzym namens Uricase mehr haben. Andere Tiere können Uric Säure abbauen. Wir nicht. Das ist evolutionär bedingt - vielleicht, weil Uric Säure als Antioxidans half, das Überleben zu sichern. Heute ist es ein Nachteil.Wie entsteht die Überproduktion von Harnsäure?
Der Purin-Stoffwechsel ist ein komplexer Prozess mit mehreren Schritten. Nukleinsäuren (DNA und RNA) werden abgebaut. Aus Guanosin wird Guanin, dann Xanthin - und schließlich Uric Säure. Dafür braucht es das Enzym Xanthinoxidase. Genau hier greifen die wichtigsten Medikamente an. Aber nicht nur der Abbau zählt. Auch die Herstellung spielt eine Rolle. Die erste Baustelle im Purin-Syntheseweg ist das Enzym PRPP-Aminotransferase. Wenn es zu aktiv ist - etwa durch genetische Faktoren oder zu viel PRPP - wird zu viel Purin produziert. Ein Beispiel: Die seltene Lesch-Nyhan-Krankheit entsteht durch einen Defekt im HPRT-Enzym. Betroffene produzieren extrem viel Harnsäure - und leiden unter Gicht, Neurologie und selbstverletzendem Verhalten. Auch die Nieren tragen zur Problematik bei. Über 90% des gefilterten Harnsäures werden in der Niere wieder aufgenommen - durch Transporter wie URAT1 und GLUT9. Wer diese Transporter überaktiv hat, scheidet zu wenig Harnsäure aus. Genetische Varianten im SLC2A9-Gen sind dafür verantwortlich. Das erklärt, warum manche Menschen mit gesunder Ernährung trotzdem Gicht bekommen.Was sind urat-senkende Medikamente?
Es gibt drei Hauptgruppen von Medikamenten, die den Harnsäurespiegel senken - und damit Gicht langfristig kontrollieren. Xanthinoxidase-Hemmer (XOIs) blockieren das Enzym, das aus Xanthin Uric Säure macht. Dazu gehören Allopurinol und Febuxostat. Allopurinol ist seit 1966 auf dem Markt, billig und wirksam - wenn man es richtig dosiert. Viele Ärzte starten mit 100 mg täglich, erhöhen wöchentlich um 100 mg, bis der Wert unter 6,0 mg/dL liegt. Studien zeigen: 92% der Patienten erreichen das Ziel, wenn sie mindestens 300 mg pro Tag bekommen. Doch oft wird zu wenig verschrieben - weil man Angst vor Nebenwirkungen hat. Febuxostat ist neuer, teurer und wirkt stärker. Bei 80 mg täglich erreichen 67% der Patienten das Ziel. Aber: Die FDA warnte 2019 vor einem erhöhten Risiko für Herz-Todesfälle. Wer Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat, sollte lieber Allopurinol nehmen - es sei denn, er verträgt es nicht. Uricosurika wie Probenecid oder Lesinurad hemmen die Rückaufnahme von Harnsäure in den Nieren. Sie zwingen den Körper, mehr auszuscheiden. Probenecid ist günstig - aber nur bei guter Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance über 50 mL/min). Bei schlechter Nierenfunktion wirkt es kaum. Lesinurad wurde 2019 vom Markt genommen - weil es Nierenschäden verursachte. Neue Wirkstoffe wie Verinurad sind in Prüfung und könnten bald eine bessere Alternative bieten. Uricase sind Biologika. Sie ersetzen das verlorene Enzym Uricase. Pegloticase wandelt Uric Säure in Allantoin um - ein Stoff, den der Körper leicht ausscheidet. Es ist extrem wirksam: 42% der Patienten erreichen Ziele unter 5,0 mg/dL. Aber: Es ist teuer - über 16.000 Dollar pro Monat. Und es löst oft schwere Infusionsreaktionen aus. Deshalb wird es nur bei schwerer, tophazöser Gicht eingesetzt, wenn alles andere versagt.
Warum scheitern so viele Patienten an der Therapie?
Die Zahlen sind erschreckend. Nur 37% der Gichtpatienten in den USA erreichen das Zielwert von unter 6,0 mg/dL. Warum? Erstens: Viele Ärzte verschreiben Allopurinol - und hören dann auf. Sie erhöhen die Dosis nicht. Sie messen den Harnsäurespiegel nicht regelmäßig. Eine Studie aus 2024 zeigte: Nur 29% der Hausärzte folgen den Leitlinien. Zweitens: Die ersten Monate sind hart. Wenn man mit der urat-senkenden Therapie beginnt, lösen sich Kristalle aus den Gelenken. Das löst akute Anfälle aus - oft schlimmer als vorher. Viele Patienten denken: „Das Medikament macht es schlimmer.“ Sie hören auf. Die Leitlinien empfehlen deshalb: Kombiniert mit Colchicin (0,6 mg täglich) für mindestens sechs Monate. Das reduziert die Flares um bis zu 80%. Drittens: Nebenwirkungen. Allopurinol verursacht bei 12% der Patienten einen schweren Hautausschlag - manchmal lebensgefährlich. Deshalb wird in Asien vor der Einnahme auf das Gen HLA-B*58:01 getestet. In Europa ist das noch nicht Standard. Febuxostat kann die Leber belasten. Pegloticase kostet eine kleine Wohnung pro Jahr. Viertens: Die Erwartungen. Viele denken, Gicht ist „nur“ ein Problem des Essens. Sie glauben, wenn sie kein Bier trinken, reicht das. Aber: Eine strenge Diät senkt den Harnsäurespiegel nur um 1-2 mg/dL. Das reicht nicht. Nur Medikamente können die Kristalle auflösen.Was hilft wirklich?
Die beste Therapie ist keine Wunderkur. Sie ist konsequent, langsam und individuell.- Starte mit Allopurinol 100 mg täglich. Erhöhe jede Woche um 100 mg, bis der Harnsäurespiegel unter 6,0 mg/dL liegt - oder unter 5,0 mg/dL bei schwerer Gicht mit Tophi.
- Prüfe den Wert alle 2-5 Wochen, bis das Ziel erreicht ist. Danach alle 6 Monate.
- Nimm Colchicin (0,6 mg einmal oder zweimal täglich) für mindestens sechs Monate - auch wenn du dich gut fühlst.
- Vermeide extreme Diäten. Reduziere statt dessen: Leber, Nieren, Sardellen, Hering, Bier, Spirituosen. Trinke viel Wasser - mindestens 2 Liter am Tag.
- Wenn Allopurinol nicht geht - wegen Hautreaktionen oder Nierenproblemen - wechsle zu Febuxostat. Aber prüfe das Herz.
- Wenn alles andere scheitert - und Tophi wachsen - sprich mit einem Rheumatologen über Pegloticase.
Was kommt als Nächstes?
Die Forschung schreitet voran. Verinurad - ein neuer URAT1-Hemmer - zeigt in Studien, dass er mit Febuxostat kombiniert 74% der Patienten auf Zielwerte bringt. Arhalofenat - ein Wirkstoff, der sowohl urat-senkend als auch entzündungshemmend wirkt - reduziert die Anzahl der Gichtanfälle um fast 60%. Auch die Zukunft der personalisierten Medizin rückt näher. Genetische Tests könnten bald sagen: „Du hast eine Variante, die die Nieren blockiert - du brauchst ein Uricosurikum.“ Oder: „Du bist HLA-B*58:01-positiv - Allopurinol ist gefährlich für dich.“ Die globale Gicht-Marktgröße wird bis 2030 auf 4,2 Milliarden Dollar wachsen. Die Zahl der Patienten steigt - besonders in Asien. In China leben bereits 23,7 Millionen Menschen mit Gicht. In Deutschland sind es über 2 Millionen.Was sollten Patienten wissen?
Gicht ist keine Strafe fürs Leben. Es ist eine Stoffwechselerkrankung - wie Diabetes oder Bluthochdruck. Sie ist behandelbar. Aber sie erfordert Geduld. Viele Patienten hören nach einem Jahr auf - weil sie denken, es sei vorbei. Doch die Kristalle brauchen Monate oder Jahre, um sich aufzulösen. Bis dahin bleibt das Risiko für Anfälle. Und die Gelenke können sich irreversibel schädigen. Ein Patient schrieb in einer Online-Community: „Nach sechs Monaten auf 300 mg Allopurinol sank mein Wert von 9,2 auf 5,8 - aber ich hatte drei Anfälle. Mein Arzt hätte mich warnen sollen.“ Ein anderer: „Pegloticase hat mein Leben verändert. Meine Tophi sind weg. Aber ich musste 17 Mal die Krankenkasse bitten, es zu bezahlen.“ Gicht ist nicht nur eine Krankheit der Gelenke. Sie ist eine Krankheit des Systems. Und sie braucht ein System - nicht nur ein Medikament.Kann ich Gicht durch Ernährung allein heilen?
Nein. Eine gesunde Ernährung kann den Harnsäurespiegel um 1-2 mg/dL senken - aber das reicht nicht, um Kristalle aufzulösen oder Anfälle zu verhindern. Nur urat-senkende Medikamente erreichen die notwendigen Werte unter 6,0 mg/dL. Ernährung ist eine Ergänzung - nicht die Therapie.
Warum bekomme ich Gichtanfälle, obwohl ich Allopurinol nehme?
Das ist normal, besonders in den ersten Monaten. Wenn das Medikament beginnt, Kristalle aufzulösen, lösen sich kleine Teile ab und reizen das Gelenk. Das löst eine Entzündung aus. Deshalb wird Colchicin gleichzeitig verschrieben - um diese Anfälle zu verhindern. Sobald der Harnsäurespiegel stabil unter 6,0 mg/dL liegt, hören die Anfälle meist auf.
Ist Allopurinol sicher, wenn ich Herzprobleme habe?
Ja - im Vergleich zu Febuxostat. Die FDA warnte 2019 vor Febuxostat bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil es das Risiko für Herz-Todesfälle erhöht. Allopurinol hat kein solches Risiko. Es ist die erste Wahl für Patienten mit Herzproblemen - sofern sie keine allergische Reaktion auf Allopurinol haben.
Warum wird nicht mehr auf HLA-B*58:01 getestet?
In Asien ist das Standard - besonders bei chinesischen, koreanischen und thailändischen Patienten, wo das Risiko für schwere Hautreaktionen bis zu 10% beträgt. In Europa und den USA wird es noch nicht routinemäßig empfohlen, obwohl die Daten klar sind. Einige Kliniken testen bei Hochrisikopatienten - etwa bei Niereninsuffizienz oder vorherigen Hautreaktionen. Es ist sinnvoll, aber nicht überall verfügbar.
Wie lange dauert es, bis Tophi verschwinden?
Das hängt von der Größe und Dauer ab. Kleine Tophi können in 6-12 Monaten schrumpfen, wenn der Harnsäurespiegel stabil unter 5,0 mg/dL liegt. Große, jahrelange Tophi brauchen 2-5 Jahre. Die einzige Chance: konsequente Therapie. Ohne Medikamente bleiben sie bestehen - und können Gelenke zerstören.