Hochrisikomedikamente: So funktionieren die zusätzlichen Prüfverfahren in der Praxis

Hochrisikomedikamente: So funktionieren die zusätzlichen Prüfverfahren in der Praxis
Gesundheit & Medizin Torben Wehrle 2 Dez 2025 0 Kommentare

Ein falscher Tropfen kann tödlich sein. Das ist keine Theorie, sondern Alltag in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Besonders bei Hochrisikomedikamenten macht ein kleiner Fehler - eine falsche Dosis, ein verwechselter Name, ein falscher Weg - den Unterschied zwischen Leben und Tod. Deshalb gibt es strenge Regeln: Bevor solche Medikamente verabreicht werden, muss ein zweiter Fachmann unabhängig prüfen. Kein Klick, kein Tropfen, kein Spritze ohne doppelte Kontrolle.

Was genau sind Hochrisikomedikamente?

Hochrisikomedikamente sind nicht einfach nur starke Medikamente. Sie sind Medikamente, bei denen selbst ein kleiner Fehler - ein Zehntel Milligramm zu viel, ein Tropfen zu schnell, ein falscher Zugang - zu schwerwiegenden Schäden oder zum Tod führen kann. Die Institute for Safe Medication Practices (ISMP) definieren sie als Substanzen, die ein „erhöhtes Risiko“ tragen, Patienten schwer zu schädigen, wenn sie falsch verwendet werden.

Zu diesen Medikamenten gehören klar definierte Gruppen:

  • Insulin - egal ob als Spritze, Tropf oder Pumpe. Zu viel Insulin senkt den Blutzucker so stark, dass es zu Koma oder Hirnschäden führt.
  • IV-Opioiden - wie Morphin oder Fentanyl. Eine zu hohe Dosis kann die Atmung stoppen - innerhalb von Minuten.
  • Heparin - ein Blutverdünner. Zu viel davon führt zu lebensbedrohlichen Blutungen, zu wenig zu Lungenembolien.
  • Chemotherapeutika - Krebsmedikamente. Sie töten nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen. Eine falsche Dosis kann den Körper zerstören.
  • Kaliumchlorid-Konzentrat - ein Elektrolyt. Wenn es direkt in die Vene gespritzt wird, kann es den Herzmuskel zum Stillstand bringen.
  • Kardiovaskuläre Medikamente - wie Beta-Blocker, Kalziumantagonisten oder Herzglykoside. Sie wirken direkt auf Herz und Kreislauf. Ein Fehler hier ist oft irreversibel.

Es geht nicht darum, dass diese Medikamente „gefährlich“ sind. Es geht darum, dass sie verzeihungslos sind. Ein Fehler lässt sich nicht einfach zurücknehmen.

Wie funktioniert die Doppelprüfung wirklich?

Die Doppelprüfung - auch unabhängige Doppelprüfung genannt - ist kein Ritual. Sie ist ein Sicherheitsnetz. Und sie muss richtig gemacht werden, sonst ist sie wertlos.

Ein Pfleger bereitet das Medikament vor. Er prüft den Patienten, die Medikamentenliste, die Dosis, den Weg, die Zeit. Dann ruft er einen zweiten Fachmann - das kann ein anderer Pfleger, ein Arzt oder ein Apotheker sein - aber nicht jemand, der gerade dabei war, das Medikament vorzubereiten.

Der zweite Prüfer sieht nicht, was der Erste gemacht hat. Er prüft selbstständig:

  • Stimmt der Patient? Zwei Identifikatoren: Name und Geburtsdatum - nicht nur der Armbandcode.
  • Stimmt das Medikament? Name, Konzentration, Verpackung - mit der Rezeptur abgeglichen.
  • Stimmt die Dosis? Berechnet selbst - nicht nur angenommen, weil der andere es gesagt hat.
  • Stimmt der Weg? IV? Epidural? Oral? Kein Tausch zwischen den Wegen!
  • Stimmt die Zeit? Ist es wirklich jetzt, oder ist es noch zu früh?
  • Stimmt die Form? Ist die Flasche trüb? Hat das Medikament eine ungewöhnliche Farbe? Ist das Heparin klar oder hat es Partikel?

Beide unterschreiben gemeinsam im Medikationsplan. Keine Halbherzigkeit. Kein „Ich hab’s schon gesehen.“ Kein „Der hat’s doch geprüft.“ Es muss unabhängig sein. Sonst ist es nur eine Bestätigung - und nicht eine Prüfung.

Warum ist das so wichtig - und warum wird es trotzdem oft ignoriert?

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Studien zeigen: Bis zu 50 % der schwerwiegenden Medikationsfehler bei Hochrisikomedikamenten könnten durch eine korrekte Doppelprüfung verhindert werden. In der Onkologie, wo Chemotherapeutika verabreicht werden, ist die Doppelprüfung Pflicht - und sie rettet Leben.

Aber hier kommt die Realität: In vielen Kliniken wird die Doppelprüfung nicht mehr gemacht - oder nur halbherzig.

Warum? Weil es Zeit braucht. Weil es Personal braucht. Weil die Schichten knapp sind. Eine Umfrage von ISMP aus dem Jahr 2022 ergab: 68 % der Pflegekräfte gaben an, dass sie die Doppelprüfung bei hohem Arbeitsaufkommen ausgelassen haben. 42 % sagten: „Es war einfach kein zweiter Kollege verfügbar.“

Das ist kein Versagen der Einzelnen. Das ist ein Systemversagen. Wenn die Arbeitsbedingungen so sind, dass Sicherheitsprotokolle nicht mehr einhaltbar sind, dann ist das Protokoll schlecht - nicht die Menschen.

Zwei medizinische Fachkräfte überprüfen eine Hochrisiko-Infusion bei einem Neugeborenen auf der Neonatologie-Station.

Was ändert sich? Technik als Verbündeter

Die Zukunft liegt nicht darin, mehr Menschen zu zwingen, mehr zu prüfen. Die Zukunft liegt darin, die Prüfung intelligent zu machen.

Barcodescanner am Bett - das ist heute Standard in vielen Häusern. Bevor das Medikament verabreicht wird, scannt der Pfleger das Armband des Patienten und das Medikament. Das System prüft automatisch: Passt das Medikament zum Patienten? Passt die Dosis? Ist es die richtige Zeit? Wenn nein - Alarm.

Diese Technik ist zuverlässiger als eine müde Doppelprüfung nach einer 12-Stunden-Schicht. Sie lässt sich nicht „vergessen“. Sie lässt sich nicht „überspringen“.

Aber: Technik kann nicht alles. Sie erkennt nicht, ob ein Medikament verklumpt ist. Sie erkennt nicht, ob der Patient plötzlich eine unerwartete Reaktion zeigt. Sie kann nicht beurteilen, ob die Infusionsrate richtig eingestellt ist - wenn die Pumpe falsch programmiert wurde.

Deshalb ist die klügste Lösung heute: Technik für Routine, Mensch für Komplexität.

  • Barcodescanner für die grundlegende Identifikation - Patient, Medikament, Dosis.
  • Manuelle Doppelprüfung nur für die kritischsten Fälle: Chemotherapie, hochkonzentrierte Infusionen, epidurale Opioidgabe, neue Medikamente mit unbekannten Nebenwirkungen.

Das ist nicht weniger Sicherheit. Das ist intelligente Sicherheit.

Was muss eine Klinik tun, um es richtig zu machen?

Jede Einrichtung muss ihre eigene Liste von Hochrisikomedikamenten erstellen - nicht einfach kopieren, was ISMP sagt. Warum? Weil eine kleine Klinik andere Medikamente verwendet als ein Universitätsklinikum. Ein Krankenhaus mit viel Kindermedizin braucht andere Regeln als ein Altenheim.

Die Joint Commission verlangt, dass jede Klinik:

  • Eine schriftliche Liste von Hochrisikomedikamenten hat - basierend auf eigenen Fehlern, Patientendaten und nationalen Leitlinien.
  • Definiert, für welche Medikamente eine Doppelprüfung Pflicht ist - und warum.
  • Schult alle Mitarbeiter - nicht nur einmal, sondern regelmäßig.
  • Dokumentiert jede Doppelprüfung - mit Unterschrift, Datum, Uhrzeit.
  • Prüft regelmäßig, ob die Prozesse funktionieren - und wo sie scheitern.

Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhauspharmazie (DGfK) empfiehlt: Machen Sie die Doppelprüfung nicht zur Bürokratie. Machen Sie sie zur Kultur. Jeder, der ein Medikament verabreicht, muss wissen: Ich trage Verantwortung - und ich bin nicht allein.

Eine erschöpfte Krankenschwester steht in einem dunklen Flur, während holographische Warnsymbole für gefährliche Medikamente schweben.

Was ist mit Kindern und Neugeborenen?

Bei Kindern ist die Gefahr noch größer. Ihr Körper verarbeitet Medikamente anders. Sie wiegen weniger. Ihre Organe sind empfindlicher. Deshalb gilt in der Pädiatrie: Alle kardiovaskulären Medikamente - Doppelprüfung.

In der Neonatologie - also bei Frühchen im Intensivbereich - ist die Regel noch strenger: Alle Hochrisikomedikamente - Doppelprüfung. Punkt.

Ein Milligramm zu viel Fentanyl bei einem Neugeborenen - und das Kind atmet nicht mehr. Ein Tropfen zu viel Kalium - und das Herz stoppt. Hier gibt es keinen Spielraum. Keine Ausreden. Kein „es war ja nur ein kleiner Fehler“.

Was passiert, wenn jemand die Doppelprüfung nicht macht?

Wenn ein Mitarbeiter die Doppelprüfung auslässt - und es kommt zu einem Fehler - ist das kein „Unfall“. Das ist ein Versagen des Systems.

In der deutschen Medizinrechtssprechung gilt: Wer eine klare, dokumentierte Sicherheitsregel ignoriert, handelt fahrlässig. Bei schwerwiegenden Folgen kann das strafrechtliche Konsequenzen haben - und auch zivilrechtliche Haftung für die Einrichtung.

Aber der wichtigere Punkt: Jede ausgelassene Doppelprüfung ist eine Chance, die ein Patient verliert. Und das ist unersetzlich.

Was kann jeder tun - auch als Besucher oder Angehöriger?

Sie sind kein medizinischer Fachmann? Dann fragen Sie trotzdem.

Wenn jemand ein Medikament vorbereitet - fragen Sie: „Wird das von zwei Personen geprüft?“

Wenn Sie sehen, dass jemand nur eine Person prüft - sagen Sie: „Sollte das nicht noch jemand kontrollieren?“

Das ist kein Eingreifen. Das ist ein Schutz. Und es rettet Leben.

Die Doppelprüfung ist kein Bonus. Sie ist die letzte Barriere zwischen einem Fehler und einer Tragödie. Und sie funktioniert - nur wenn sie ernst genommen wird.

Welche Medikamente müssen immer doppelt geprüft werden?

Nach den Leitlinien von ISMP und der Joint Commission müssen folgende Medikamente immer einer unabhängigen Doppelprüfung unterzogen werden: Insulin (alle Formen), intravenöse oder epidurale Opioiden, intravenöses Heparin, Chemotherapeutika, Kaliumchlorid-Konzentrat und bestimmte kardiovaskuläre Medikamente wie Beta-Blocker oder Herzglykoside. In der Pädiatrie und Neonatologie gilt dies für alle kardiovaskulären und hochkonzentrierten Medikamente.

Warum reicht nicht eine Prüfung durch den Apotheker?

Der Apotheker prüft die Rezeptur - aber nicht die tatsächliche Verabreichung. Die Doppelprüfung vor der Verabreichung prüft, ob das richtige Medikament am richtigen Patienten, zur richtigen Zeit, mit der richtigen Dosis und dem richtigen Weg verabreicht wird. Das ist eine andere Ebene der Sicherheit - und sie findet am Bett statt, wo der Fehler passieren kann.

Darf ein Arzt den Pfleger beim Doppelcheck abnehmen?

Ja - aber nur, wenn der Arzt tatsächlich unabhängig prüft und nicht nur unterschreibt. Ein Arzt, der nur „ja, stimmt“ sagt, ohne selbst zu prüfen, macht keinen Doppelcheck. Der zweite Prüfer muss die Dosis berechnen, die Verpackung prüfen und die Patientendaten bestätigen - unabhängig vom ersten.

Ist die Doppelprüfung wirksam, wenn die Mitarbeiter müde sind?

Nein. Studien zeigen: Unter Stress und Erschöpfung werden Doppelprüfungen oft nur formal durchgeführt - ohne echte Kontrolle. Deshalb ist es entscheidend, die Arbeitsbedingungen zu verbessern: genug Personal, realistische Schichten, klare Prozesse. Eine müde Doppelprüfung ist gefährlicher als gar keine.

Kann man die Doppelprüfung durch Scanner ersetzen?

Teilweise. Barcodescanner sind zuverlässiger für die Grunddaten: Patient, Medikament, Dosis. Aber sie erkennen keine physikalischen Veränderungen - wie verklumptes Heparin oder falsch programmierte Infusionspumpen. Deshalb: Scanner für Routine, menschliche Prüfung für komplexe Fälle. Beides zusammen ist die beste Lösung.

Was passiert, wenn kein zweiter Prüfer verfügbar ist?

Dann darf das Medikament nicht verabreicht werden. Keine Ausnahme. In solchen Fällen muss das Medikament zurückgehalten, der Vorgesetzte informiert und die Verabreichung verschoben werden - bis ein qualifizierter zweiter Prüfer verfügbar ist. Sicherheit geht vor Zeitdruck.